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Wie alles begann

Als Roger und ich gestern Vormittag mit Sämi in Richtung Massa Marittima fuhren wurde mir plötzlich bewusst, dass ich an Ostern 2002, also genau vor 20 Jahren, hier in Massa Marittima zum ersten Mal auf einem Rennvelo sass. Zum Mountainbiken kam ich durch meinen Bruder im Sommer 2001. Er nahm mich als Rookie ins Bikelager des VC Reinach mit nach Fiesch. Zusammen mit meinem Schulbike, mit sage und schreibe zwei Zentimetern Federweg und Körbchenpedalen, reiste ich damals mit meinem Bruder und seinen Vereinskollegen in das Sport Resort in Fiesch. Velohosen und Trikots bekam ich leihweise von meinem Bruder und meinem Vater. Bereits nach der ersten Ausfahrt war ich in diese faszinierende Sportart verliebt. Ich mag mich noch gut daran erinnern, wie mir die Jungs aus dem Veloclub am zweiten Tag Klickpedalen montierten und ich an der ersten Stoppstrasse wie ein Kartoffelsack einfach zur Seite kippte, weil ich natürlich nicht wusste, dass man vor dem Stoppen aus den Pedalen klicken sollte!! Doch dieses Missgeschick passierte mir nur einmal. Schon bald hatte ich den Dreh raus und bereits mitte Woche raste ich mit meinem Schulbike den Jungs über die Downhill Piste in Fiesch hinterher. Ich hatte definitiv Blut geleckt und mit meinen 18 Jahren auch überhaupt keine Angst vor irgendwelchen Abfahrten, Sprüngen etc. No risk no fun war damals mein Motto. 

 

Vom Bike aufs Rennvelo

So musste ich auch nicht zweimal überlegen, als mich die Jungs aus dem Veloclub Reinach fragten, ob ich über Ostern mit ihnen ins Trainingslager in die Toscana reisen möchte. Mein Vater lieh mir freundlicherweise sein Rennvelo. Bereits die Fahrt in die Toscana mit dem damaligen alten Teambus war ein Abenteuer. Völlig eingequetscht und mit vollem "Garacho" ging es mit dem alten Bus in die Toscana. Damals gab es zum Glück noch keine Gurtenpflicht und den Bus fahren durfte auch noch Jeder, der den Führerschein besass. Mein Bruder und ein Kollege aus dem Club fuhren, statt mit dem Bus, bereits zwei drei Tage früher mit dem Rennvelo von Reinach in Richtung Massa Marittima los. Damals für mich etwas Unvorstellbares, wie kann ein Mensch diese Distanz in zwei, drei Tagen schaffen? Ich erinnere mich an gewisse Dinge, als wäre es erst gestern gewesen. Als wir nämlich in unserer Unterkunft in Massa Veccia ankamen, ging es bereits los auf eine erste Einwärmrunde. 60 km und Einwärmrunde? Ich ahnte Schlimmes? Die nächsten Tage absolvierten wir jeweils Ausfahrten zwischen 100 und 150 Kilometern. Zum Glück gab es zwei Gruppen und "Sale" und "Walder" kümmerten sich liebevoll um mich und absolvierten die Ausfahrten mit mir. Damals gab es weder GPS noch hatten wir irgendwelche Smartphones. Wir hatten eine physische Karte dabei und jemand kümmerte sich jeweils um die Routenplanung und die Führung unterwegs. Natürlich hatten gewisse bereits einen Tacho am Velo. Sale mit seiner 2 Meter Körpergrösse und bestimmt 90 Kilogramm führte jeweils in den Abfahrten und wir freuten uns, wenn er uns verkündete, dass wir soeben 80 km/h auf dem Tacho hatten!! Es gab weder irgendwelche komischen Strava Segmente, noch wurden die Zeiten verglichen oder irgendwelche Wattzahlen am Ende kommuniziert. Wir genossen einfach die Zeit auf dem Rennvelo, die wunderschönen Strassen und die blühende Natur in der Toscana. 

 

Heidi entdeckt die Welt

Ich war das typische Mädchen vom Land. Meinen Eltern bin ich heute enorm dankbar, dass wir ohne Gameboy, ohne Barbie, ohne TV und weiteren Schnickschnack aufgewachsen sind. Dafür lernten wir zu Hause und bei meinem Onkel auf dem Bauernhof, wie man Schafe schert, Disteln aus der Weide entfernt, Kartoffeln erntet und vieles mehr. Unser Leben fand in der Natur statt und wir durften Baumhäuser bauen, Indianer spielen, einander verhauen, ohne Velohelm mit den Kindervelos unsere Grenzen ausloten, alleine mit den Rollschuhen (Inlineskates gab es damals noch nicht) 5 km in die nächste Badi fahren und und und. Ein Kinderleben in Freiheit, ohne jegliche Überwachung. 

 

So war auch in der Toscana, in diesem Hotel, vieles neu für mich. Als wir nämlich einmal Spaghetti serviert bekamen und ich diese kurzerhand mit dem Messer zerstückelte, wurde ich umgehend von der zweiten Frau im Veloclub gerügt. So was gehöre sich nicht, Spaghetti esse man mit Gabel und Löffel. Ich verstand die Welt nicht mehr und fühlte mich einmal mehr in meinem Leben fehl am Platz. An einem anderen Abend wurde uns ein frischer Fisch serviert. Wohlgemerkt habe ich das komische Besteck dazu auf dem Tisch bemerkt, mir aber nicht näher Gedanken darüber gemacht. Frischen Fisch hatte ich vorher in meinem Leben noch nie gegessen, ich kannte nur Fischstäbli. Also nahm ich den Fisch in die Hände, biss hinein und oh Schreck - da hat es ja noch Gräte drin?! Wieder mal hat mir Simone die Leviten gelesen und mich ausgelacht. Ich erinnere mich noch gut an den lieben Kellner. Obwohl ich kein Wort Italienisch sprach,  verstanden wir uns. Er nahm meinen Teller, zerlegte den Fisch und entfernte die Gräte. Und als der Kellner nach einer Weile wiederkam und fragte ob Jemand noch von etwas Nachschub haben wolle, musste ich nicht lange überlegen und bestellte einen zweiten Fisch! Und siehe da, der liebe Kellner brachte mir den zweiten Fisch bereits essbereit. Ich grinste über das ganze Gesicht, nahm den Fisch in die Hände und schlang diesen mit einer grossen Dankbarkeit herunter. Es gib sie eben doch, die Menschen die einen verstehen und einen so nehmen, wie man ist. Dem lieben Kellner bin ich heute noch dankbar, denn ich sollte in meinem Leben noch in das eine oder andere weitere Fettnäpfchen treten, weil ich einfach bin wie ich bin und mich nicht versuche zu verstellen, nur damit ich in die frei erfundenen "Normen" unserer Gesellschaft passe. Mittlerweile stehe ich da drüber und ich lasse mich von solchen Bemerkungen, wie damals von dieser Simone, nicht mehr aus der Ruhe bringen. 

 

Selbst ist die Frau

Zurück im 2022 - verbringe ich aktuell zusammen mit Roger und unserem Sämi wieder ein paar Tage in der Toscana. Aktuell geniesse ich Ausfahrten auf meinem Rennvelo ganz für mich alleine. Während ich auf dem Rennvelo die Gegend erkunde, geniesst Roger die Ruhe (ohne Cristina) oder fetzt die coolen Biketrails in der Region Punta Ala und Massa Marittima runter. Mir macht es nichts aus alleine unterwegs zu sein. Im Gegenteil, ich liebe es sogar. Und lustig, was man als alleinfahrende Frau auf dem Rennvelo so alles erlebt. Wie diese Typen immer wieder meinen, dass man als Frau Windschatten brauche und sie mit den aussergewöhnlichsten Ausreden den Kontakt zu dir suchen. Ich weiss nicht, ob das anderen Frauen auch so ergeht? Bereits letzte Woche und auch heute hatte ich wieder eine solche Begegnung. Heute auf einem der letzten Hügel zog ich, oben angekommen, meine Windjacke an. Im Augenwinkel habe ich bemerkt, wie von rechts ein Rennvelofahrer angefahren kommt und mich blöde anstarrt. Ich hielt meinen Kopf extra gesenkt und beachtete ihn nicht. Er fuhr dann weiter und ich wartete bis ich ihn aus den Augen verlor. Dann fuhr ich weiter. Irgendwann sah ich ihn rechts am Strassenrand stehen und irgendwie an seinem GPS herumfummeln. Ich bremste ab und näherte mich langsam - extra um ihm Zeit zu und ihn vor mir losfahren zu lassen. Er fuhr dann zum Glück wieder weiter, blickte aber immer wieder nach hinten. Ich nahm etwas Tempo raus und liess ihn gewähren. Nach einigen Minuten stand dieser Typ wieder am Strassenrand und zog seine Jacke an. Dieses mal fuhr ich an ihm vorbei, grüsste zwar, hielt den Blick aber nach vorne auf die Strasse gerichtet. Ich bemerkte, dass er mir sofort folgte. Kurze Zeit später fuhr er neben mir und meinte auf Hochdeutsch (er war Deutscher) - es sei schon noch ziemlich frisch. Ich sagte nur "ja". Dann meinte er, "halt doch noch nicht ganz Sommer". Ich erwiderte kurz und trocken: "wie auch - es ist ja auch erst April". Er liess nicht locker und fragte mich ob ich auch bis nach Massa Marittima fahre. Ich sagte: "Ja". Er meinte, "dann komm doch in meinen Windschatten"! Ich musste nur lachen und sagte ganz höflich: "nein danke, ich fahre lieber alleine gegen den Wind". Er versuchte es noch ein, zwei mal, trat in die Pedale und schaute immer wieder nach hinten ob ich ihm denn nun wirklich nicht folgte. Ich musste nur schmunzeln und mir kam ein Bekannter in den Sinn, welcher mir einmal sagte, dass ich ihn immer an eine einsame Wölfin erinnere. Das Wort "einsam" hat einen negativen Beigeschmack, doch ich glaube es gibt einsam und einsam. Vielleicht trifft es auch eher die Beschreibung, welche mir vor einem Monat Xaver im Skitest gegeben hat. Er meinte, dass er beim ersten Mal als er mich traf sofort bemerkt habe, dass ich ein Freigeist sei! Früher war es für mich schwierig damit umgehen zu können, dass ich anders bin als die Mehrheit der Bevölkerung und dass man als "Freigeist" oder wie auch immer man solche Menschen mit einem Charakter wie meinem bezeichnen möchte, es in unserer Gesellschaft nicht immer einfach hat. Ich bin gerne unter Leuten - sofern ich mich wohl fühle und so sein kann wie ich bin. Auch liebe ich es mit einer Freundin, einem Freund oder eben mit Roger in der Natur und den Bergen unterwegs zu sein. Ich liebe es Abenteuer zu teilen und liebe Menschen um mich zu wissen. Ich habe aber Mühe Menschen zu vertrauen - zu oft wurde ich in meinem Leben bereits enttäuscht. Deshalb bin ich manchmal lieber alleine, als mich einer Gruppe anzuschliessen, wo ich dann zu wenig cool, zu wenig schnell oder zu wenig gebildet bin. Vielleicht sollte ich auf mein Velotrikot schreiben: "Achtung Freigeist - bitte nicht stören". ;-)

 

Umso mehr habe ich mich gefreut, dass mich - dank diesem Blog - bereits zwei Frauen kontaktiert haben. Eine Frau kommt aus dem Wallis. Ich freue mich, mit ihr gemeinsam die Berge in meiner neuen Heimat erkunden zu dürfen und sie persönlich kennenzulernen. Sie weiss immerhin schon viel mehr über mich als ich über sie!! ;-)

Dann hat sich noch eine Namensvetterin bei mir gemeldet. Gibt es doch tatsächlich noch eine zweite Christina Dähler in der Schweiz. Sie schreibt sich zwar mit einem "h" nach dem "C" - aber das spielt ja keine Rolle. Das Coolste daran, wir haben herausgefunden, dass wir sogar miteinander verwandt sind. Dank dem, dass mein Vater ein leidenschaftlicher Hobby-Historiker ist und alles sammelt was alt und interessant scheint - hat er natürlich im Dähler-Stammbaum herausgefunden, dass Chrsitina's und mein Urgrossvater Brüder waren. Obendrauf haben unsere Urgrossväter sogar Schwestern (also nicht die eigenen Schwestern) geheiratet. Wir sind also noch näher verwandt,  als es auf den ersten Blick den Anschein macht. Und zu guter letzt: Sie ist nur 1.5 Jahre älter und teilt dieselben Hobbies und Leidenschaften für die Natur und die Berge. Ich kann es kaum erwarten, sie bald persönlich kennenzulernen. Ein Hoch auf das World Wide Web! ;-)

 

In dem Sinne verabschiede ich mich aus dem Jetzt und wünsche allen einen wunderschönen Abend und nur das Beste für die Zukunft! 

 

Pura vida

Cristina 

 

 

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