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Swiss Ultracycling Challenge

Aktuell sitze ich im Zug in Richtung Emmental zu meinem Bruder und seiner Familie. Roger absolviert die Strecke mit dem Rennvelo. Mein Lars ist im Sämi deponiert und darf sich wieder mal ausruhen. Meine Füsse sind hochgelagert und ich nutze die Zugfahrt, meine 50 Stunden im Sattel Revue passieren zu lassen.

 

Vor einer Woche konnte ich mein Saisonziel Nr.  Zwei, die 40x Grimselchallenge, erfolgreich abhäkeln. Total im Flow genoss ich dann das Wochenende mit meinen beiden lieben Freundinnen Maria am Samstag in Zinal & Marit am Sonntag beim Klettern. Ich begleitete Maria in Zinal beim Trail du Besso als Betreuerin. Verpflegte sie und ihren Partner und genoss das herrliche Wetter in den Bergen. Es war schön die beiden unterstützen zu können und die tolle und familiäre Atmosphäre an diesem Lauf als Zuschauerin geniessen zu dürfen. Ein unglaublich technischer und schwieriger Ultratrailrun. Die beiden finishen zu sehen war wunderschön und motivierte mich für mein kommendes Saisonziel Nr. 3. Auch wenn man sich während einem so langen Lauf- oder Ultracyclingevent ab und zu verflucht, am liebsten aufgeben möchte oder vor Schmerzen oder Übelkeit fast nicht mehr kann, sind im Ziel alle Strapazen und Hürden schnell wieder vergessen. Solche Grenzerfahrungen suche ich immer wieder, obwohl es in der akuten Erlebnisphase dieser Grenzen meistens nicht so spassig ist. 😅

 

Was man in 50 Stunden alles machen kann

Am Dienstagabend fuhr ich nach dem Arbeiten mit dem Zug nach Lugano. Unterwegs stopfte ich allerlei leckere Sachen in mich hinein, Carboloading lässt grüssen und gemäss einer Studie spielt es keine Rolle ob gesunde oder ungesunde kohlenhydratreiche Nahrungsmittel. So habe ich für einmal Letzteren den Vortritt gegeben! Ich ernähre mich sonst praktisch nur gesund und möglichst ohne Zucker. 

 

Als ich in Lugano am Bahnhof ankam, wartete Valentin bereits auf mich. Er reiste in 10h mit dem Zug von Frankreich an und war froh, als wir nach 25 Minuten Velofahrt unser Hotelzimmer erreichten. Wir freuten uns, dass es dieses Jahr mit einem gemeinsamen Ultracycling Event klappen sollte. Letztes Jahr musste ich unsere Transpyrenäen kurz vor dem Start absagen, weil ich mit Corona lahmgelegt wurde. Mit dem SUCH hatte ich noch eine Rechnung offen und so war ich froh, dass alle Voraussetzungen passten und ich das Abenteuer mit Valentin in Angriff nehmen konnte. Wir gingen früh ins Bett und ich schlief erstaunlich gut, obwohl ich ziemlich nervös war. Die lieben Nachrichten meiner Freunde gaben mir Mut, dass es bestimmt gut werden wird.

 

Beim SUCH mussten 5 Checkpoints und 24 Kantone angefahren werden. Zwei Kantone durften wir dieses Jahr auslassen. Gestartet wurde am Mittwoch um 10.10 Uhr an einem x-beliebigem Bahnhof in der Schweiz. Die Strecke musste jeder selbst planen und die Reihenfolge der Checkpoints spielt keine Rolle. Das Ziel war der Bundesplatz in Bern und man durfte nur Strassen auf Schweizer Boden befahren und alles den Regeln von Selfsupportet Rennen entsprechend. Also ohne externe Hilfe. Keine Verpflegungsposten, keine Übernachtung bei Freunden oder Bekannten und natürlich auch kein E-Motor!! Wie fast alle anderen starteten Valentin und ich am Bahnhof in Melide. Um 10.10 Uhr posierten wir alle vor der Bahnhofsuhr für das obligate Selfie als Beweis für den Organisator. Dann wurde es kurz hektisch. Alle wollten so rasch wie möglich den ersten Checkpoint auf der italienischen Seite erreichen. Auch wir drückten ordentlich aufs Gaspedal. Beim Check-Point mussten wir in unseren SUCH-Pässen einen Stempel lochen, wieder aufs Rad steigen und weiterdüsen. Unsere Weiterfahrt führte uns durchs ganze Tessin. Ich fühlte mich super. Am Anfang wechselten wir uns bei der Führung ab. Irgendwann übernahm ich dann die Führung, weil ich merkte, dass ich wohl die Stärkere war. In Airolo hatten wir bereits einen Zehntel der Strecke geschafft und im Coop deckten wir uns mit frischen Esswaren und Cola ein. Dann folgte mein Lieblingsabschnitt, die Tremola. Ich fuhr in meinem Tritt und wartete immer wieder auf Valentin. Er war am leiden. Ich genoss das herrliche Wetter und verschickte Sprachnachrichten an meine Freunde und Roger.

 

Unterwegs wurde ich vom Organisator interviewt und auf dem Pass unterhielten sich andere Velofahrer mit mir, während ich auf Valentin wartete. Ich ass Flips (danke Maria für diesen grandiosen Tipp), nahm Salztabletten und zog meine Regenjacke für die Abfahrt an. In rasantem Tempo ging es weiter über Andermatt und Wassen bis nach Altdorf. In Altdorf steuerte ich auf die Coop Tankstelle zu, wo wir unsere hungrigen Bäuche wieder stopfen konnten. Ab Bauen folgte ein wunderschönes Hike & Bike. Das Rennvelo tragend und schiebend absolvierten wir den Wanderweg mit herrlicher Sicht auf den Vierwaldstättersee. Oben verteilte ich Salztabletten und Flips an andere Fahrer. Salz war bei dieser Hitze ein gefragtes Gut. Es folgten die Kantone Ob- und Nidwalden, Luzern, Schwyz, Zug und Zürich. Es wurde Nacht und endlich etwas kühler. Ab Ziegelbrücke fuhr ich das erste Mal mit dem Velo dem Walensee entlang. Nach Sargans folgte ein kurzer Abstecher in den Kanton Graubünden. Wieder zurück auf St. Galler Boden folgte der ödeste Part. Unzählige flache und eintönige Kilometer dem Rhein entlang. Bei der alten Rheinbrücke mussten wir einen Abstecher nach Liechtenstein machen und den zweiten Check-Point abhacken. Dann wieder zurück auf den langweiligen Damm. Zum Glück war Nacht und die Sicht eingeschränkt. So war diese schnurgerade Strecke erträglich. Wir fuhren beide in unserem Tritt mit ungefähr 100 Meter Abstand. In Altstätten gönnten wir uns einen 20 minütigen Powernap in einem "EC-Hotel" auf einem warmen Teppichboden.

 

Den dritten Check-Point in Rheineck erreichten wir kurz vor Tagesanbruch. Mir war schlecht und ich war froh, als die Shops an den Bahnhöfen öffneten und wir in einem Avec Shop unser Frühstück essen konnten. Meine Riegel brachte ich, wen wunderts, bereits nach 60 Kilometern nicht mehr runter. Ich ass immer das, was mich glustete. Um 8.30 Uhr hatte ich solchen Hunger, dass wir direkt den nächsten Coop ansteuerten und ich ein halbes Poulet genüsslich an der Morgensonne auf dem Trottoir vor dem Coop verzehrte. Die Passanten schmunzelten mich alle an, denn es muss ein herrliches Bild abgegeben haben. Das viele Salz gab mir Energie. Ich war wie eine Powebank, frisch geladen und mit vollem Akku. Die vielen Autos und der abartige Morgenverkehr machten mich wieder mal etwas nachdenklich. Unsere Überbevölkerung und der riesengrosse Energieverschleiss ist immens. Im Goms lebe ich im Paradies und wenn ich dann wieder mal in viel besiedeltem Gebiet unterwegs bin, bin ich überfordert. Zum Glück habe ich mittlerweile mentale Tricks, welche mich von diesen negativen Gedanken wieder zurück in meine Welt holen. Ich konzentrierte mich aufs Fahren und blendete alles um mich herum aus. 

 

Lieber kein GPS, als ein Garmin

Nach dem vierten Check-Point in Büssingen in Deutschland führte uns Valentins Garmin GPS in eine völlig falsche Richtung. Ich wurde nervös, kribbelig und war genervt. Wir fuhren wieder mit meinem Wahoo weiter und ich führte uns zurück auf die geplante Route. Nach Olten statteten wir einem Mc Donalds einen Besuch ab. Für mich gab es eine grosse Portion Pommes mit einer Extraladung Salz. Valentin blieb seinen Süssigkeiten treu und ass einen grossen Becher Mc Flurry. Die Nachmittagshitze brannte im Aufstieg nach Langenbruck erbärmlich auf uns nieder. Basel-Land abhacken und weiter über Balsthal nach Moutier. In Moutier folgte ein kurzer Abstecher in den Kanton Jura. Unser Tracker hat uns im Kt. Jura erfasst, doch auf dem Livetracking war der Jura auch nach 10 Minuten warten immer noch nicht abgehackt. Wir machten sicherheitshalber einen Printscreen vom Tracker auf der Onlinemap und fuhren wieder zurück nach Moutier und weiter nach Biel. Ab Biel wurde es wieder dunkel und wir fuhren in unsere zweite Nacht hinein. Die Strecke dem Bielersee entlang bis Neuenburg war total hässlich. Viele nervige Autos, alles total überbaut, Baustellen so weit das Auge reichte und das alles bei immer wieder zufallenden Augen. Kurz vor Yverdon konnte ich meine Augen nicht mehr offen halten. Und wenn man sie braucht, sind die "EC-Hotels" natürlich nirgends anzutreffen. Wir fanden einen offenen Wartesaal an einem Bahnhof. Valentin legte sich auf die einzige Bank und ich auf den Betonboden. In meine Daunenjacke eingemummelt und der Regenjacke als Unterlage, versuchte ich in der Embriostellung auf dem harten Boden etwas zu schlafen. Nach 50 Minuten hielt ich es nicht mehr aus. Auch Valentin war froh, als wir wieder aufstanden und all unsere Sachen für die Weiterfahrt zusammenpackten. Es folgte absolutes Neuland für mich. Bei der Routenplanung stellte ich mir ab Yverdon flaches Gelände bis nach Nyon vor. Weit gefehlt. Ein stetiges auf und ab. Ein hin und her und irgendwann wusste ich nicht mehr in welche Himmelsrichtung wir eigentlich fuhren. Dann nochmals ein GPS Desaster. Weil mein GPS fast keinen Akku mehr hatte gab mir Valentin seine Powerbank. Doch statt dass die Powerbank mein GPS auflud, lud das GPS die Powerbank. Und plötzlich war mein GPS am Arsch und liess sich auch nicht mehr einschalten. Valentin konnte auf seinem Garmin den Track nicht laden und so fuhren wir eine Weile mit meinem Handy. Das war aber gefährlich. Mitten in der Nacht, nur eine Hand am Lenker und das Handy in der anderen Hand und dazu noch navigieren. Ich war genervt und frustriert. Ich verfluchte all die Technik und wäre am liebsten ins nächste Bett gelegen und in einen tiefen, festen Schlaf verfallen. Irgendwann klappte der Upload auf Valentins GPS dann doch noch und wir konnten weiterfahren. Wir fuhren nur noch gemütlich, weil wir beide extrem müde Augen hatten. Wir mussten uns mega konzentrieren und bei der Sache bleiben. Ich war erleichtert, als wir den fünften und letzten Checkpoint an der Grenze zu Frankreich erreichten, denn jetzt trennten uns nur noch 150 km vom Ziel auf dem Bundesplatz. In Nyon steuerten wir einen Migrolino an. Da dieser erst um sechs Uhr Morgens öffnete gönnten wir uns nochmals ein 20 minütiges Powernap vis à vis auf den Bänken bei der Bushaltestelle. Ich war so müde, dass ich innerhalb von wenigen Sekunden in die Traumwelt verschwand. Das anschliessende Frühstück mit Cappuccino und leckerem Börek weckte meine Lebensgeister wieder auf. Ich war total im Flow und freute mich auf den letzten Abschnitt. Meine wunde "Muschi" freute sich auch, dass es bald zu Ende sein sollte. Obwohl ich mich bei jeder Pause mit Babycrème eincremte war ich an gewissen Stellen vom Schweiss und Dreck ziemlich wund. 😇😅

 

Dann endlich war es soweit. Nach 50 Stunden, 1099 km und rund 12'000 Höhenmetern erreichten Valentin und ich glücklich und zufrieden das Ziel auf dem Bundesplatz in Bern. Wie beim Vollgummi wieder viel zu schnell, doch Roger ist sich das mittlerweile gewöhnt und er hat mich wieder im Ziel mit offenen Armen erwartet. Auch Maria kam noch mit ihrem Velo angebraust und gemeinsam konnte ich mit ihnen meine Freude teilen. Das leckere Finisherbier hatten wir uns mehr als verdient. Ich bin unglaublich dankbar und happy, dass ich auch mein drittes Saisonziel erreichen konnte. Dass ich ohne grossen Tiefs, ohne grosse Schmerzen, ohne Panne und bis am Schluss voller Energie und Freude dieses Abenteuer um die Schweiz erleben durfte. Auch dass mit Valentin alles reibungslos verlief und wir gut harmonierten. Im Vorfeld hatte ich Angst mit einem Mann zu fahren und davor, dass ich zu schwach sein würde. Doch ich war bestens in Form und er musste nie Rücksicht auf mich nehmen und nie warten. Auch in der Fläche drehten meine Beine wie ein V2-Zylindermotor und der Tank war nie leer. Einen herzlichen Dank wieder an Roger und meine lieben Freunde und meinen Bruder für die mentale Stütze und die lieben Nachrichten, Videos und Bilder. Auch die vielen netten Fahrer unterwegs, die Gespräche und die Organisationscrew. Eine richtig tolle, kleine Ultracycling Familie!! 💚

 

Mein Speiseplan in den 50h:

- 3 Peanutbutter Powerriegel

- 6 Liter Cola

- unzählige Liter Wasser

- 4 Studentenschnitten

- 1 Nussmischung à la Cristina

- 1 Börek

- 1/2 Poulet

- 1 kleine Pizza

- 3 Laugengipfel

- 1 Packung Flips

- 3 Spinatstrudel

- 1 grosse Portion Pommes

- 3 Lattesso Kaffeedrinks

- 500 gr Trauben

- 1 griechischer Salat

- 1 Packung Ingwer Gummibärli

 

In dem Sinne, ä Guete und pura vida

Cristina

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Kommentare: 3
  • #1

    Viviane Spielmann (Sonntag, 10 September 2023 20:57)

    Einfach nur ganz grosse Klasse!
    �-ab! Toller Bericht, war schon ziemlich gespannt zu erfahren wie e gelaufen ist!
    Ganz gute Erholung �

  • #2

    Latour Hanspeter (Sonntag, 10 September 2023 21:17)

    Liebe Cristina
    Gratulation zu dieser enormen Leistung! Die Frage ist gestattet :Warum nur? Was bringen diese Strapazen in den Grenzbereichen?
    Glücksgefühlen und Zufriedenheit!
    Viel mehr noch: Zum Beispiel, wenn 10 Minuten vor meinem Vortragsbeginn auf dem Niesen ein Kabel fehlt und Du dabei als Verantwortliche die Ruhe selbst bleibst und alles bestens über die Bühne geht. Ich wünsche Dir sehr, dass deine ausserordentliche Belastbarkeit in einem, deinen Fähigkeiten entsprechenden Kaderjob, zum tragen kommen werden.
    Liebe Grüsse auch an Roger
    Hanspeter

  • #3

    Erich Rölli (Donnerstag, 21 September 2023 23:02)

    Hallo Cristina
    Ich war der Velofahrer, der dir auf dem Gotthard viel Glück gewünscht hat. Nach Furka, Nufene und Gotthard war für mich das Jahresziel erreicht, bei Dir fing es erst an. Ich freue mich, dass alles geklappt hat. Danke für die sportliche Inspiration!
    Herzliche Gratulation und alles Gute.
    Erich