Es ist Freitagmorgen früh 6.00 Uhr. Ich erwache alleine in unserem Sämi am Thunersee. Nach einem ausgiebigen Frühstück mache ich mich mit meinem Rennvelo inkl. Gepäck mit dem Zug auf den Weg nach Burgdorf. Es ist bereits sehr warm und die Sonne scheint, als ich kurz nach 8.00 Uhr Burgdorf erreiche und mich in das Startgelände des Bikepacking Events Vollgummi begebe. Kurz einchecken, GPS-Tracker in der Velotasche verstauen und eine letzte Pinkelpause. Pünktlich um 8.40 Uhr starte ich im zweiten Startblock in mein Veloabenteuer, welches nach meinem Unfall Mitte Juli in weite Ferne gerückt war. Doch ein kurzer Check beim Arzt tagszuvor sowie die super Physiobehandlung meiner Freundin Maria stimmten mich zuversichtlich. Der Arzt meinte, ich könne fahren solange ich im Fuss und Knie keine Schmerzen empfinde und schädigen könne ich nichts, ausser den Heilungsprozess etwas verlangsamen.
Ich fahre also ohne Erwartungen los und bin einfach nur dankbar, dass ich Glück im Unglück hatte und sich mein Fuss und das Knie so gut und rasch erholen. Ich fühle mich gut und geniesse den ersten Abschnitt durchs Emmental bis zum ersten Checkpoint. Ich komme gut und zügig vorwärts und bin im Flow. Ich weiss, dass ich diese gute Phase geniessen muss und dass es auch schwere Zeiten geben wird. Wie immer sehe ich auf meinem GPS nur die Route. Ich verliere jegliches Zeitgefühl und bin hier im Moment. Ich mache mir keine Gedanken wie weit ich bereits bin oder wie viele Kilometer noch vor mir liegen. Nur die Hitze wird immer unertäglicher. In einem kleinen Kaff im Jura brauche ich das erste Cola und ein kleiner Snack aus dem Volg. Der längere und vorallem steile Aufstieg zu Checkpoint 2 auf dem Werdtberg hat es in sich. Ich leide und mir ist übel. Das lauwarme Wasser aus meinem Bidon eckelt mich und ich bringe keinen Bissen mehr runter. Auch andere Fahrer leiden, was das eigene Leiden erträglicher macht. Irgendwann bin ich oben und erhalte den zweiten Stempel. Ich kühle meinen Kopf unter kaltem Wasser, fülle meine Bidons und zwinge mich mein Trockenfleisch zu essen. Salz tut mir gut und die erfrischende Luft in der Abfahrt weckt meine Lebensgeister. Mit Gegenwind strample ich weiter nach Biel. Die vielen Menschen, Autos und Velos irritieren mich. Konzentration ist gefragt. Bei einer Tankstelle gönne ich mir ein Butterbrezel und ein kühles Getränk. Weiter gehts. Als ich die Ortschaft "Mariahilft" passiere muss ich grinsen und an Maria denken. Wie passend denke ich und bin dankbar für die Tapes an meinem Knie, welche mir Maria verpasst hat. Denn weder in meinem Fuss, noch im Knie verspüre ich Schmerzen. Das heisst weiterfahren. "Gring achä u tschauppä". Als ich Richtung Düdingen der Aare entlang fahre und die vielen Badegäste sehe und mir der Geruch von grillierten Würsten in die Nase steigt, würde ich am Liebsten alles hinschmeissen und mich ins kühle Nass stürzen und mit einem frischen Bier das Nichtstun geniessen. Doch ich habe mir versprochen, trotz schlechter Vorbereitung in den Wochen davor wegen Jobverlust und Unfall, nur aufzugeben, wenn ich Schmerzen habe. Wegen Übelkeit und negativen Gedanken den Bettel hinzuschmeissen kommt nicht in Frage.
Irgendwann erreiche ich Plaffeien. Ich steuere direkt den Coop an. Cola und Salzstängeli werden es schon richten, bin ich überzeugt. Es gesellen sich drei weitere Fahrer zu mir. Gemeinsam gönnen wir uns eine Pause am Schatten. Ich verabschiede mich als Erste und nehme den Aufstieg zu Checkpoint 3 auf dem Ottenleuebad in Angriff. Vor der Abfahrt telefoniere ich kurz mit Roger. Er baut mich auf und nun weiss ich, dass bereits 17 Uhr ist und es langsam aber sicher kühler werden wird. Der Aufstieg haut mich fast um. Ich kann mich kaum mehr auf dem Sattel halten. Zweimal steige ich ab. Ich versuche mich zu übergeben, doch es klappt nicht. Ich rapple mich auf, will aufgeben. Fahre aber immer wieder weiter. Beim Checkpoint geben mir die Helfer Bouillon und Cola und einer meint: nach jedem Tief kommt wieder ein Hoch. Ich weiss dass er recht hat, doch ich scheine mich einfach nicht mehr erholen zu können. Das offerierte Sandwich bringe ich nicht runter. Ich nehme es aber mit für die Nacht. Und es geht weiter. Ich nehme den Weg über Bulle, aussen rum. Den Weg über die Gravelroute Schwarzsee erspare ich mir. Irgendwann wird es dunkel und kühler. Der Vollmond, die Berge, die Ruhe und Stille machen das Ganze leichter. In Saanen treffe ich beim Selecta Automaten auf einen Mann in Anzug. Er kommt mit mir ins Gespräch und kann nicht glauben was wir da machen. Er will meine Leistung honorieren und fragt mich, ob er mich am Automaten auf ein Getränk und Snack einladen darf. 😅 Da ich nichts essen kann und bereits eine Cola getrunken habe, lehne ich dankend ab. Er wünscht mir noch eine gute Fahrt und denke an mich. Ich fahre Checkpoint 4 entgegen. Irgendwann zeigt mein GPS links abbiegen. Ich bin verwirrt, weil es auf einer Forststrasse weitergeht. Ich habe keine Energie das Handy aus meiner Tasche zu grübeln und fahre weiter. Ich verfluche meine schlechte Vorbereitung und die kurzfristige Routenplanung. Ich denke, dass ich nicht genau gelesen habe und die asphaltierte Strasse von Gstaad und nicht von Saanen zur Alp führt. Der Weg wird immer wie steiler und es folgt ein Wanderweg. Ich muss das Velo schieben und mehrere Alpzäune passieren. Ich bin mental am Anschlag. Kurz muss ich weinen und spreche mit den Kühen auf der Weide. Nach 3 langen Kilometern und einer gefühlten Ewigkeit erreiche ich Checkpoint 4. Luki, welchen ich immer wieder treffe ist bereits da und alle meinen, diesen Weg hat noch Niemand genommen. Alle kommen natürlich über die Teerstrasse, ha ha ha. Es braucht viele positive Worte und Zuspruch der Helfer, dass ich mich wieder aufraffe und weiterfahre. Zusammen mit Luki fahre ich los. Die Fahrt durchs Simmental mitten in der Nacht ist ein Traum. Wo man sonst als Velofahrer wegen den vielen Autos mega aufpassen muss, haben wir nun die Strassen für uns alleine. Ich zwinge mich zu essen und würge Nüsse und einen Riegel runter. In Spiez sehe ich bei der Bahnhofsuhr die Zeit. Es ist kurz vor zwei Uhr morgens als ich dem Thunersee entlang fahre. Mit der Müdigkeit habe ich dieses Mal keine Probleme. In Brienz überlege ich mir eine Powernap zu machen, lasse es dann aber sein. Der Brünig ohne Autos, ein Traum. In Hasliberg muss ich mich 15 Minuten auf eine Bank legen mit der Hoffnung der Übelkeit entgegen zu wirken. Nichts hilft, all meine mentalen Tricks greiffen ins Leere, aber aufgeben ist keine Option. Irgendwie erreiche ich zusammen mit dem Sonnenaufgang Checkpoint 5 auf der Mägisalp.
Ich bekomme nochmals eine Bouillon und Cola. Nicht mal den leckeren Alpkäse bringe ich runter. Käse, welchen ich normalerweise in grossen Mengen vertilge. In der Abfahrt geniesse ich den Fahrtwind und die frische Bergluft. In Interlaken knurrt mein Magen. Im Migrolino esse ich einen Spinatstrudel und das erste Mal seit langem einen Kaffee. Endlich fühle ich mich besser. Ich weiss jetzt kann ich es schaffen. Ich mobilisiere nochmals meine versteckte Energie. Am Thunersee überholt mich ein Triathlet ohne zu grüssen. Wenige Minuten später fragt er mich tatsächlich ob ich ihn stossen könne, sein Akku bei der Schaltung hat den Geist aufgegeben und er war wohl nicht in der Lage seinen harten Gang durchzudrücken. Normalerweise habe ich in solchen Momenten meistens einen Spruch auf Lager, doch nach 24h auf dem Velo schüttle ich nur den Kopf und lasse ihn stehen.
Der viele Verkehr in Richtung Ostermundigen zum letzten Checkpoint macht mir Mühe. Es fühlt sich nach der einsamen Nacht wie ein Kulturschock an. Der Lärm, die Abgase und die vielen Menschen überfordern mich. Augen zu und durch. Beim Veloplus in Ostermundigen erreiche ich Checkpoint 6 und noch so gerne esse ich eines der leckeren Muffins und lasse meinen Bidon mit Cola füllen. Jetzt trennen mich noch wenige Kilometer bis zum Ziel. Eine letzte steile Rampe, gefolgt von einer rauschenden Abfahrt nach Oberburg. In Oberburg wartet mein Bruder mit seiner Tochter. Sie feuern mich an und folgen mir die restlichen Meter zurück nach Burgdorf ins Ziel. Nach 26 Stunden und 12 Minuten habe ich die 536 km und 8500 Höhenmeter erfolgreich absolviert. Mit Applaus der bereits gefinishten Fahrern werde ich empfangen. Gemeinsam mit meinem Bruder, Roger und den anderen geniesse ich das Finisher Feeling. Dankbar ohne Pannen und ohne Schmerzen durchgekommen zu sein. Geflasht, wieder mal meine Grenzen verschoben und meine Teufelchen überlistet zu haben. Unglaublich was ein Körper leisten kann und was man in 26 Stunden alleine alles erlebt und durchmacht. Sag niemals nie, aber ich weiss wirklich nicht, ob ich mir sowas nochmals antun werde...
Jetzt heisst es gut erholen. Langsam wieder ans Essen gewöhnen, damit ich am kommenden Samstag mit Roger den legendären Inferno Triathlon im Couple bestreiten kann. Am Fuss und Knie sollte es nicht scheitern und die beiden Velostrecken werde ich sicher irgendwie bewältigen können. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Pura vida
Cristina
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