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Zwischen Freiheit und Einsamkeit – was das Reisen mich lehrt

Ich bin zurück im Co-Working in Los Cristianos, da ich heute Nachmittag wieder ein Online-Meeting habe. Heute Morgen bin ich mit Sämi von Vilaflor, wo ich die letzten zwei Nächte verbracht habe, angereist. Zuerst wieder schwimmen im Freibad - inklusive einer warmen Dusche und Haare waschen. Auch die frischen Kleider von meinem letzten Besuch im Co-Working, exakt vor einer Woche, habe ich wieder hervorgeholt und angezogen. Ich bin von unten bis oben frisch, sauber und gesellschaftstauglich. :-) 

 

Wochenrückblick

Es ist kurz nach sechs Uhr Abends. Ich schalte den Laptop aus, packe meinen Rucksack, verlasse das Co-Working und fahre mit dem Velo zurück zu Sämi. Ich bin nach dem Online-Meeting und den vielen Stunden vor dem Laptop zu müde um weiterzufahren. Ich entscheide mich, nochmals eine Nacht in Los Cristianos zu bleiben. Ich lege mich wie gewohnt früh ins Bett, lese in meinem neuen, englischen Roman, welchen ich heute im Büchertauschecken in Los Cristianos entdeckt habe. Ich schlafe immer noch schlecht, erwache mehrmals und habe Mühe einen tiefen und festen Schlaf zu finden. 

 

Ist es gefährlich als Frau alleine zu reisen?

Eine Frage, die mir ehrlich gesagt noch nie jemand gestellt hat und ich mir selbst auch nicht. Doch diese Nacht grüble ich die ganze Zeit an dieser Frage. Ich lasse die Schiebetür und auch die Hecktüre für einmal geschlossen. Frische Luft dringt nur durch das Dach- und Seitenfenster in Sämi. Der Deutsche Camper, welchen ich in Los Cristianos getroffen habe, hat mich unsicher gemacht. Nach meiner ersten Nacht, als er mich am nächsten Morgen ansprach, meinte er nur ich sei mutig mit offener Hecktüre zu schlafen. Er erzählte mir diverse Schauermärchen, wie in Spanien auf dem Festland, während der Nacht plötzlich einer in seinen Camper eingebrochen sei und wie ihm und seiner Frau, auch während der Nacht in Spanien in der Nähe von Malaga, beide E-Bikes auf dem Veloträger gestohlen wurden. Auch eingebrochen wurde tagsüber in seinen abgeschlossenen Camper bereits zweimal. Ich meinte zu ihm, dass heutzutage wohl eh nur noch E-Bikes gestohlen werden, wer will noch selbst in die Pedale treten und mein Bike ist auch nicht gerade das Neuste und auch eher ein günstigeres. Mein Gravel habe ich immer vorne in der Führerkabine und mit eine Decke zugedeckt. Trotzdem haben mir seine Berichte, ob sie nun wahr sind oder nicht, Angst eingehaucht. Bisher schlief ich meistens mit offener Seitentüre, damit genügend frische Luft im Sämi zirkuliert.  

 

Zurück zur Frage ob es gefährlicher ist als Frau alleine zu reisen, als wenn ein Mann alleine reist. Dieser Frage geht auch die Digitale Nomadin, Pauline Picker, in ihrem Buch "Weltwandlerinnen" auf den Grund. Dieses Buch habe ich mir für meine Reise in physischer Form angeschafft und bereits verschlungen. Sie erzählt über sich, ihren Drang vom Reisen, ihren Erlebnissen als Doghandlerin auf verschiedenen Huskyfarmen in Finnland, Schweden und Kanada, dem Reisen mit dem Bus und dem Aufbau ihrer Selbständigkeit und dem Leben als Digitale Nomadin. Zusätzlich interviewt sie verschiedene Frauen, welche auch kein gesellschaftlich "normales" Leben führen und ihren jeweils eigenen Traum vom Reisen mit dem Segelschiff, dem Van, zu Fuss oder dem Velo leben. Dabei taucht immer wieder diese Frage auf? Dass Frauen alleine Reisen oder ihre eigenen Träume leben, ohne festen Wohnsitz, abseits gewohnter Wege und gesellschaftlicher Erwartungen, wird in unserer Gesellschaft zum Glück immer wie "natürlicher". Mich hat dieses Buch fasziniert und inspiriert. Ich bewundere den Mut dieser 13 Frauen und wünsche mir oft, selbst auch mutiger zu sein. Mir weniger Gedanken zu machen, einfach meinem Herzen zu folgen - ganz ohne Sicherheitsbedürfnis und Gedanken daran, was andere von mir denken mögen. Manchmal gelingt es mir besser, manchmal wieder überhaupt nicht. Und für mich persönlich macht es keinen Unterschied, ob man als Frau oder als Mann alleine reist. 

 

Nach Los Cristianos zieht es mich weiter in den Süden in die Punta de Abona. Ich finde einen guten Stellplatz für Sämi - mit direktem Zugang zum Strand. Ich ziehe mein Badekleid an und begebe mich ins Meer um Bodysurfen zu üben. Nach einer Stunde gebe ich auf, die Wellen sind zu klein und wegen der Ebbe zieht sich das Wasser noch weiter zurück. Stattdessen erkundige ich die Unterwasserwelt beim Schwimmen mit der Schwimmbrille. Mittlerweile liebe ich das Schwimmen im Meer und das Beobachten der Fische. Auf La Palma begegnete ich beim Schwimmen sogar einer Meeresschildkröte - sie schwamm ein paar Sekunden neben mir her. Hier in dieser Bucht fällt der Boden nur langsam ab und rund um die Lavafelsen hat es besonders viele, verschiedene farbige und grosse Fische. Die Wassertemperatur ist immer noch sehr angenehm und ich kann ohne Neopren locker 45 Minuten schwimmen, ohne kalt zu bekommen. Was bei mir viel heisst, da ich eher ein "Gfrörli" bin.

 

Weil es hier nur wenige Leute hat und auch in der Nacht sehr ruhig ist, bleibe ich einige Tage da. Es ist ungewöhnlich windstill für Teneriffa und speziell für diese Bucht. Normalerweise bläst hier meistens ein Wind und bringt Wellen fürs Surfen. Mit Bodysurfen wird leider nichts. Das heisst ich geniesse jeden Morgen den Sonnenaufgang auf dem Meer auf meinem SUP. Das Meer ist fast spiegelglatt und die Sonne geht langsam über der Nachbarsinsel La Gomera auf. Ich stelle erfreut fest, dass ich die Angst vor den Tiefen des Meeres ablegen konnte. Ich entferne mich mit dem SUP weit vom Festland und fahre jeweils direkt der Sonne entgegen. Ich überlege mir sogar, ob es rein theoretisch möglich wäre, mit dem SUP bis nach La Gomera zu paddeln? Möglich sicher, bestimmt hat das auch schon Jemand gemacht. Die Fähre braucht für die Überfahrt ca. eine Stunde, das heisst in einem Tag wäre das bestimmt machbar. Doch ohne Begleitung und ohne irgendwelche Seefahrts-Erfahrung wage ich ein solches Abenteuer lieber nicht. Ich begnüge mich mit kürzeren Ausfahrten. An einem Tag unternehme ich eine längere, anstrengende und abenteuerliche Runde mit dem Gravelbike. Oft enden die Schotterpisten plötzlich irgendwo im Niemandsland oder gehen in einen, mit dem Gravel für mich unfahrbaren Wanderweg über. Dann heisst es Bike schultern und wandern. Das einzige, was hier bei langen Ausfahrten mühsam ist, ist die Wasserversorgung. Aus dem Alpenraum bin ich es gewohnt, dass ich überall immer wieder auf Brunnen oder Wasserquellen treffe. Hier gibt es nirgends Wasser. Dementsprechend wenig trinke ich und wenn ich ein Dorf passiere, steuere ich meistens den Supermercado an um frisches Wasser oder ein Süssgetränk zu kaufen. 

 

Und zack - der Hammer kommt

Ich bin noch nicht einmal wieder eine ganze Woche alleine und schon zerfrisst mich die Einsamkeit. Ich schlittere in eine Reisekrise. Ich hinterfrage mich, was ich hier eigentlich verloren habe und den Sinn des Alleinreisens. Mir fällt wortwörtlich die "Reisedecke" auf den Kopf. Da ich eher eine verschlossene und introvertierte Person bin, spreche ich praktisch nie Jemand Fremdes an und auch fühle ich mich in "Szenen" unwohl. Ich treffe an meinen Übernachtungsplätzen zwar immer wieder andere Camper, doch oft sind es Paare oder Senioren und dazu noch meistens Spanier, wo ich die Sprache nicht spreche. Ich wünschte mir eine App, wo ich andere Alleinreisende in meinem Alter, mit denselben Interessen finden könnte. Ja, ich habe mir in den letzten Tagen Gedanken über eine solche App gemacht und bereits Zeichnungen etc. dazu auf Papier gebracht. Es fehlt mir nur der Programmierer, ein Mitdenker und natürlich die Finanzspritze. 

 

So liege ich an diesem Abend alleine in meiner Räuberhöhle im Sämi, in Gedanken versunken und begebe mich immer weiter in der Negativspirale nach unten. Der Austausch über WhatsApp mit Freundinnen und natürlich Roger, heitern mich ein wenig auf. Irgendwann überfallt mich die Müdigkeit und ich schlafe ein. Am nächsten Morgen erwache ich früh. Ich frühstücke, trinke einen starken Kaffee und begebe mich mit dem SUP in Richtung Strand. Mit Freude sehe ich, dass über Nacht ein VW-Bus mit Schweizer Kennzeichen neben mir parkiert hat. Den ersten Schweizer Camper, welchen ich seit meiner Abreise sehe! :-) Natürlich schläft die Person noch.

 

Als ich nach meinem Morgenritual mit SUP und Schwimmen zurückkomme, sehe ich bereits von Weitem, dass die Schiebetür des Schweizer Vans offen ist. Gespannt auf den Besitzer oder die Besitzerin laufe ich zurück zu Sämi. Beim Vorbeigehen grüssen wir uns. Es ist eine Frau und erst noch eine Alleinreisende. Wir kommen sofort ins Gespräch. Ich biete ihr einen Kaffee an und wir machen es uns im Sämi gemütlich. Ist es ein Wink des Schicksals? Wir verstehen uns von Anfang an und sie erzählt mir offen ihre Geschichte. Sie hat im Mai in der Schweiz ihre ganzen Zelte abgebrochen und wollte auf die Insel La Gomera auswandern. Sie hatte bereits vor der Auswanderung ein Jobangebot. Auch den Ort hat sie bereits von vorherigen Reisen gekannt und sie hatte Visionen und Ideen, welche sie bei ihrer Arbeit einbringen wollte. Ihr ging es wie mir. Man sieht wirklich erst richtig dahinter, wenn man für einen Arbeitgeber arbeitet. Vieles war Schein und sie wurde verarscht, nicht ernst genommen und am Ende grundlos auf die Strasse gestellt. Ich fühle bei ihren Erzählungen mit und weiss haargenau wie es sich anfühlt von Menschen, denen man meinte, dass man vertrauen kann, verarscht zu werden. Wenn man Sachen hinterfragt, diese anspricht und keine Marionette ist, ist man schnell ein Dorn im Auge, welcher so rasch wie möglich wieder entfernt werden muss. So sind ihre Träume geplatzt und von einem Tag auf den anderen war sie arbeitslos und das in einem fremden Land, weit weg vom gewohnten Umfeld. Zum Glück hat sie auch einen Bus "Jimmy" - lustig dass die Vans von Frauen meistens einen Männernamen haben! Obwohl Sämi gehört auf dem Papier nur Roger, ich bin eigentlich nur Mieterin ohne Miete bezahlen zu müssen! :-) 

 

Zu zweit vergeht die Zeit im Nu. Wir erzählen uns gegenseitig unsere Lebensgeschichten. Und ich stelle wieder mal fest, ich bin nicht die Einzige die sich nichts traut und an sich und ihrem Weg zweifelt. Man sieht bei den anderen Menschen immer nur die Fassade und das Schöne. Wirklich dahinter sieht man erst, wenn die Person dies zulässt und ehrlich und offen darüber erzählt. Jeder trägt seinen Rucksack, der eine ist schwerer, der andere leichter. Doch auch leichte Rucksäcke müssen nicht unbedingt besser sein. Schade haben wir uns erst jetzt getroffen. Sie ist am Sonntag bereits wieder mit der Fähre in Richtung Huelva (Festland Spanien) aufgebrochen. Ich bewundere ihren Mut, wie sie ihrem Traum der Auswanderung gefolgt ist und jetzt die Rückreise, zwar in den sicheren Hafen der Schweiz - trotzdem ins Unbekannte, in Angriff nimmt. Wie sie das Positive aus dieser "schlimmen" Erfahrung sieht und den Schritt nicht bereut. Denn wenn man etwas nicht wagt, wird man es vielleicht ein Leben lang bereuen, dass man es nicht gemacht hat. Sie hat es gemacht, ist auf die Schnauze gefallen, wieder aufgestanden und hat dabei viel übers Leben und über sich lernen können. Ich bin mir sicher, dass auch bei ihr eine neue Türe aufgehen wird und in einiger Zeit klar sein wird, für was diese Erfahrung gut war und dass es sie in verschiedenen Bereichen weitergebracht hat. Wir tauschen unsere Handynummern aus und wer weiss, wann und wo sich unsere Wege wieder kreuzen werden. 

 

Wie auch Pauline Picker in ihrem Buch schreibt, haben wir alle Ängste, Themen und blinde Flecken. Und wir brauchen einander um diese zu erkennen und benennen zu können. Wir treffen immer wieder auf Menschen, nicht nur beim Reisen, sondern überall. Bei gewissen öffnen wir uns direkt, ohne sie wirklich zu kennen. Einige bleiben, einige verschwinden wieder und manchmal wird man verletzt oder enttäuscht. So ist das Leben und wirklich wissen wie es in einer Person tief im Innern ausschaut können wir nicht. Ich schäme mich nicht offen zu sein und auch über meine Schwächen und meine Ängste zu schreiben. Ich bin dankbar, dass ich in der Schweiz das Recht dazu habe und meine Meinung frei äussern darf. Natürlich kennen mich nur ganz wenige Menschen wirklich bis in die unendlichen Tiefen meiner Seele, das ist gut so und soll auch so bleiben. 

 

Die unerwartete Bekanntschaft hat mich wieder etwas gestärkt. Diese Auf und Abs beim alleine Reisen machen auch andere durch und das Leben ist ein Prozess und keine gerade Linie. Ich weiss, dass ich einen Tapetenwechsel brauche und werde spätestens am Dienstag nach Lo Gomera aufbrechen und sehen ob auch La Gomera seit unserem Besuch während der Corona-Zeit von Touristen überlaufen wird. Ich hoffe nicht und ich freue mich auf meine weitere Entdeckungsreise vom Leben, von den Kanaren und von mir selbst. 

 

Pura vida

Cristina

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